Literaturnobelpreis 1955: Halldór Laxness

Literaturnobelpreis 1955: Halldór Laxness
Literaturnobelpreis 1955: Halldór Laxness
 
Der Isländer erhielt den Nobelpreis für die »lebendige epische Kraft seiner Prosa, die die großartige isländische Erzählkunst zu neuer Blüte geführt hat«.
 
 
Halldór Kiljan Laxness (eigentlich Halldór Kiljan Gudjónsson), * Reykjavík 23.4.1902, ✝ Reykjavik 9.2.1998; in der Jugend mehrere Auslandsaufenthalte, 1922 Eintritt in ein Benediktinerkloster, Ende der 1920er-Jahre Abwendung vom Katholizismus, 1926-29 Aufenthalt in den USA, danach Hinwendung zum Sozialismus (bis in die 1950er-Jahre), danach Abkehr von dogmatischen Ideologien.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit ihrer alten Literatur, der Skaldendichtung, der eddischen Dichtung und den Prosasagas, besitzen die Isländer einen der reichsten literarischen Traditionsbestände aller Völker. Diese Konstellation wurde natürlich nicht übergangen, als man Halldór Laxness, der als bedeutendster isländischer Dichter seit dem Mittelalter gilt, mit dem Nobelpreis für Literatur bedachte.
 
Gleichwohl war Laxness kein Regionalschriftsteller. Obwohl seine Bücher fast ausschließlich isländische Themen behandeln, produzierte er Weltliteratur, war selbst ein Weltmann und nahm an den wesentlichen internationalen literarischen, weltanschaulichen und politischen Bewegungen seiner Zeit teil.
 
 Jugendjahre auf dem europäischen Kontinent
 
Bereits mit 17 Jahren verließ Laxness Island zur ersten seiner vielen Auslandsreisen. In den folgenden Jahren erwarb er umfangreiche Kenntnisse der Weltliteratur. In dieser Zeit entstand »Das rote Büchlein«, das ein vorrangiges Interesse an philosophischen und spirituellen Themen dokumentiert. 1922 trat er in ein luxemburgisches Benediktinerkloster ein und konvertierte zum Katholizismus. Seit dieser Zeit trug er nach außen den Familiennamen Laxness, nach dem Bauernhof seiner Familie.
 
In den folgenden Jahren war Laxness vorwiegend mit sich selbst beschäftigt, auch als Schriftsteller. Ende der 1920er-Jahre wandte er sich wieder vom Katholizismus ab und ließ sich literarisch von der surrealistischen Bewegung inspirieren. Das literarische Ergebnis dieser Jahre ist der autobiografisch geprägte Roman »Der große Weber von Kaschmir« (1927). Mit seinem kühnen, subjektivistischen Stil der zeitgenössischen internationalen Avantgarde verpflichtet, scheint der junge Laxness mit diesem Buch auch die einheimische Erzähltradition der Sagas abschütteln zu wollen.
 
 Literarische Neuorientierung
 
Laxness' Bruch mit der literarischen Tradition und sein unkonventioneller Gebrauch der isländischen Sprache erregten in seiner Heimat eine Zeit lang die Gemüter. Den damit eingeschlagenen modernistischen Weg verfolgte Laxness jedoch nicht weiter. Seine literarische Neuorientierung um 1930 war innerlich mit der Abwendung von Gottsuche und Selbstfindung und äußerlich mit einem Aufenthalt in Nordamerika verbunden, wo Laxness mit den gesellschaftskritischen Schriften von Upton Sinclair und Sinclair Lewis bekannt wurde. Seine Erfahrungen und Gedanken aus der Zeit der Amerikareise sind in dem Essayband »Buch des Volkes« (1929) festgehalten.
 
Fortan verliert Laxness das vordringliche Interesse an der Innenwelt seines Romanpersonals und wendet sich sozialen Themen zu. Zwischen 1930 und 1950 entsteht der Kern seines Romanwerks, die Arbeiten, die sein Prestige beim Publikum begründeten und ihn zum Anwärter auf den Nobelpreis machten: »Salka Valka« (1931-32 in zwei Teilen) handelt von den ökonomischen Bedingungen des Lebens und den sozialen Konflikten in einem isländischen Fischerdorf, aber auch von der Suche nach privatem Glück. In »Sein eigener Herr« (1934) geht es um den Lebenskampf eines unbeugsamen Bauern. Laxness selbst hat die Tetralogie »Weltlicht« (1937-40) besonders geschätzt. Der Roman erzählt das seltsame Leben eines Armenhäuslers und genialischen Volksdichters, das sich schließlich in mystischer Verklärung aufhebt. Die Isländer haben eine Vorliebe für »Die Islandglocke« (drei Bände, 1943-45), wahrscheinlich weil der Roman als ein modernes Nationalepos Islands gelesen werden kann. Er beruht auf historischen Quellen aus dem 17. und 18. Jahrhundert und handelt vom Schicksal dreier Personen, deren Wege sich immer wieder kreuzen: Der Bauer Jon Hreggvidsson, ein echter Schelm, wird über mehrere Jahrzehnte hinweg durch die Mühlen der isländischen und dänischen Justiz gedreht. Der gelehrte Handschriftensammler Arnas Arnaeus hat sich die Sammlung der alten isländischen Literatur zur Lebensaufgabe gemacht. Dreimal — auch für die Sagas ist eine dreigliedrige Handlungsstruktur kennzeichnend — verrät er seine Geliebte, die feenhafte Snaefridur Islandssol, das erste Mal für seine Bücher, das zweite Mal für die Gerechtigkeit und das dritte Mal für die Zukunft Islands.
 
Wenn Laxness über arme Fischer oder Bauern schreibt und ihre soziale Lage in den Mittelpunkt seiner Geschichten stellt, dann tut er dies nicht mit erhobenem Zeigefinger, er verzichtet auf politische Agitation, und er vergisst nicht, dass soziales Leben immer aus einzelnen Schicksalen besteht, die von emotionalen Verirrungen, geheimen Antrieben und unberechenbaren Zufällen gezeichnet sind. Laxness ist kein »engagierter« Schriftsteller, er zweifelt an der verändernden Kraft der Literatur. So lässt der Erzähler Laxness seine Ansichten hinter den lakonisch berichteten Sachverhalten zurücktreten. Referierende und beschreibende Passagen wechseln mit langen Dialogen. Laxness ist sparsam mit Personencharakterisierungen und verzichtet auf psychologisch begründete Deutungen, was ebenso den Sagas abgeschaut sein könnte wie zeitgenössischen Vorbildern (beispielsweise Hemingway, den Laxness übersetzt hatte). Er bevorzugt es, sein Romanpersonal durch Handlungen und direkte Rede für sich selbst sprechen zu lassen.
 
Wie manch anderer Schriftstellerkollege seiner Generation auch bekannte sich Laxness zum Sozialismus und bereiste die Sowjetunion. Zwei Jahre vor dem Nobelpreis erhielt er den Stalinpreis für Literatur. Sein pazifistisches Engagement, ebenso wie das für die Unabhängigkeit und Souveränität Islands (das sich erst 1944 von Dänemark lossagte) lässt sich in »Atomstation« (1948) fassen. Der erste Gegenwartsroman von Laxness war durch die Streitigkeiten um die Errichtung amerikanischer atomarer Stützpunkte auf der strategisch wichtigen Insel veranlasst. Mit seinen späteren Romanen wendet er sich literarisch von sozialen und politischen Themen ab und den einzelnen Menschen und ihrer Sehnsucht nach individuellem Lebenssinn und Glück zu. Indem er diese Thematik auch unter philosophischen und spirituellen Aspekten behandelt (»Seelsorge am Gletscher«, 1968) und mit der ästhetischen Gestaltung seiner Prosa experimentiert (zum Beispiel »Sprengelchronik« 1970) scheint Laxness im Alter wieder zu den Interessen seiner Jugendjahre zurückgefunden zu haben.
 
J. Zwick

Universal-Lexikon. 2012.

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